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Leseprobe aus dem Roman »Nadelstiche«
von Dorothea Rothenfels
Kapitel 17

 

Würzburg

Mit durchdringendem Summen meldete sich der Wecker schon zum zweiten Mal. Sylvia schlug mühsam die Augen auf. Fünf nach sieben; es half nichts, wenn sie noch frühstücken wollte, musste sie sich aus dem Bett quälen.

Über Nacht war es im Zimmer kalt geworden. Hastig schloss sie das Fenster. Eigentlich musste sie zuallererst aufs Klo. Aber da konnte sie nicht einfach so im Schlafanzug hin: Die Toilette im Erdgeschoss gehörte zum Büro des Tünchers, von dem sie das Zimmer gemietet hatte. Jetzt um sieben bestand die Gefahr, dass sie einem der Männer über den Weg lief. Sie zog Jeans und eine Strickjacke über den Schlafanzug. So sah sie fast angezogen aus. Trotzdem lauschte sie an der Tür, ob sich draußen was rührte. Unbedingt provozieren wollte sie eine Begegnung nun auch wieder nicht. Dann rannte sie die Treppe hinunter. Die Tür war abgeschlossen, Mist. Sie lief zurück ins Zimmer. Hoffentlich erwischte sie nachher den richtigen Moment.

Wenn sie jetzt anfing, sich zu waschen, konnte sie nicht schnell genug reagieren, wenn die Toilette frei wurde. Also setzte sie erst mal Kaffee auf. Der brauchte sowieso ein paar Minuten, bis er durchgelaufen war. Unten war es immer noch ruhig. Als sie gerade eine Scheibe Brot abschneiden wollte, klappte eine Tür. Sie ließ das Brot zusammen mit dem Messer auf den Tisch fallen, horchte erst noch mal an der Tür und huschte hinunter. Beim Rückweg passte sie genau so sorgfältig auf, dass sie niemandem begegnete.

Ein Zimmer in Würzburg … sie war schneller am Ziel ihrer Wünsche angelangt als sie gehofft hatte. Dabei war der Anlass ziemlich übel. In der zehnten Klasse war sie das zweite Mal durchgefallen. Kein Wunder, fand Sylvia, sie hatten schließlich den Natzer in Latein. Als Weihnachten die Duport wegging, und der Hahn, Natzers Freund, den Französisch-Unterricht übernahm, stürzte Sylvia auch in diesem Fach ab. Die Schwierigkeiten mit den zwei Lehrern waren einfach zu groß. Brigitte versuchte, ihre Freundin mitzuschleppen. In einer Französisch-Schulaufgabe bekamen sie sogar beide eine Sechs, weil sie beim Abschreiben erwischt wurden. Danach war Sylvia die Fünf sicher. Nach der Doppel-Sechs traute sich keine mehr, Sylvia zu helfen. Alleine kam sie erst recht auf keinen grünen Zweig. Jedesmal wenn sie aufgerufen wurde, war alles, was sie vorher noch gewusst hatte, weg, und bei den Schulaufgaben ging es ihr nicht besser.

»Der Hahn kann dich bloß wegen 'em Namen nicht leiden«, behauptete Brigitte. Sylvia sah das anders. »Der Hahn und der Natzer sind alte Nazis«, erklärte sie. »Der Natzer prahlt ja dauernd vom Krieg, der hat seinen Namen wirklich zu recht, und der Hahn ist noch schlimmer. Mit dem hat sich der Peter mal gestritten, das muss ich jetzt ausbaden.« Anders konnte sie sich die Abneigung dieses Lehrers nicht erklären. Unter Natzer hatte sie schon in der sechsten Klasse gelitten.

Als die Katastrophe da war, hatte Frau Hun beschlossen, dass es keinen Wert mehr hätte, wenn Sylvia weiter ins Hofstadter Gymnasium ging. Die würden ihren Kindern das Abitur schlicht nicht gönnen. Die zehnte Klasse hatte Sylvia in einem Landschulheim wiederholt. Ein schreckliches Jahr, an das sie ungern zurückdachte. Im Internat hatte sie sich noch schlimmer eingesperrt und kontrolliert gefühlt als daheim bei der Oma.

Aber seit einem halben Jahr war es geschafft. Sie hatte ihr eigenes Zimmer, in dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Nur rechtzeitig aufstehen musste sie, das blieb ihr nicht erspart.

Sie hatte sich gewaschen, und der Kaffee war fertig. Jetzt war sie beim Anziehen, dabei biss sie ab und an von der Brotscheibe ab und trank einen kräftigen Schluck Kaffee. Wie immer stand sie unter Zeitdruck.

Trotzdem saß sie vor dem Läuten auf ihrem Platz. Heute war sie nicht einmal die Letzte. Nach ihr kam Roland. Er ließ sich gemächlich neben Angelika nieder. Es reichte sogar noch für einen kleinen Begrüßungskuss, ehe Lufen hereinkam.

Lufen war neu an der Schule, obwohl er bestimmt so alt wie Natzer war. Niemand wusste, was ihn hierher verschlagen hatte. Eine Strafversetzung war unwahrscheinlich. Ans Residenz-Gymnasium wurde man nicht strafversetzt. Sylvia fand, dass er gut nach Hofstadt gepasst hätte. Er baute sich erwartungsvoll am Pult auf. Die Klasse tat ihm den Gefallen und stand auf. Langsam zwar und mit viel Gepolter, aber immerhin. »Guten Morgen«, schnarrte der Lehrer.

»Guten Morgen«, antworteten einige eher nachsichtig freundlich als militärisch korrekt, wie Lufen es gern gehabt hätte.

Die Stunde begann wie immer: Atlas aufschlagen, Bodenschätze herausschreiben. Heute kam Sylvia diese Aufgabe gerade recht, dabei brauchte sie sich nicht zu konzentrieren. Auch die anderen schienen zu dösen. Nur bei Roland und Angelika ging es lebhafter zu, bis Lufen die beiden mit streng gerunzelter Stirn fixierte: »Ich hatte gesagt, Sie sollten selbstständig arbeiten. Das gilt auch für Sie, Müller!« Das kam so scharf, dass Angelika sichtlich zusammenzuckte, obwohl Lufen doch nur den Roland ermahnt hatte. Das war der einzige Höhepunkt der Erdkundestunde. Der Rest verlief so schläfrig wie der Anfang.

Dafür wachten in der zweiten Stunde alle auf. Sylvia hatte sich nie vorstellen können, dass sie einmal Freude an Fremdsprachen finden könnte, aber Frau Hofer hatte es geschafft. Bei ihr in Französisch döste Sylvia niemals weg. Manchmal meldete sie sich sogar in der Diskussion. Es war schwer. Oft feilte sie so lange an ihrem Beitrag, bis die anderen längst das Thema gewechselt hatten und sie ihren mühsam konstruierten Satz nicht mehr anbringen konnte. Und dann die Aussprache; auch wenn niemand lachte, so spürte sie doch das allgemeine Befremden. Frau Hofer verbesserte sie nur selten. Sie wiederholte, was Sylvia gesagt hatte, das machte sie auch bei den anderen oft. So war die Korrektur nicht gar zu schlimm.

Der Treppenabsatz vor dem Haupteingang war an sich großzügig angelegt, aber wenn sich in der Pause alle oberen Klassen dort drängten, wurde es eng. Sylvia kam vom Klo und gesellte sich zu einem Grüppchen aus ihrer Klasse. Sie waren zu sechst, weiter drüben standen noch ein paar Jungen. Die anderen waren wahrscheinlich im Park verschwunden, zum Rauchen, oder was die sonst trieben. Naja, solange sie sich irgendwo dazu stellen konnte, war das ziemlich egal. Bei einer reinen Jungengruppe mochte sie sich nicht aufhalten. So wie die lachten, erzählten die sich Witze, wahrscheinlich irgendwas mit Sex. Was besseres fiel denen doch nie ein. Damit wollte sie lieber nichts zu tun haben. Elke erzählte gerade etwas von einer Hilde, die alle anderen kannten. Anscheinend war sie früher einmal in der Klasse gewesen und dann weggezogen. Sie schien Liebeskummer zu haben. Offensichtlich war das Problem schon öfters diskutiert worden. Sylvia begriff nicht, wovon genau die Rede war. Fragen traute sie sich nicht, vielleicht ging sie das Ganze gar nichts an. Aber das war egal, sie musste ja nicht zuhören. Die Hauptsache war, dass sie nicht allein und verloren herumstand.

Roland interessierten Elkes Probleme offensichtlich genauso wenig. Er zog Angelika zu sich heran. Sie legte die Arme um seinen Hals, wippte kokett mit dem Oberkörper, dann bekam er einen Kuss. Er erwiderte ihn zerstreut. Eigentlich war er damit beschäftigt, ihre Jacke aufzuknöpfen. Als er auch noch Angelikas Pullover hochschob und seine Hände flach in ihrem Hosenbund versenkte, merkte Sylvia, wie fasziniert sie die ganze Zeit hingestarrt hatte. Erschrocken wandte sie sich ab. Die beiden konnten doch knutschen, wie sie wollten. Glotzen war spießig, und rot werden war noch viel spießiger. Trotzdem, ihr heißes Gesicht ließ sich nicht wegleugnen. Ein Glück, dass sich niemand um sie kümmerte.

Da läutete es zum Pausenende. Im Haus hörte man die Kleinen kreischend die Treppen hochrennen. Die Großen wandten sich ruhig und würdevoll zum Eingang. Angelika knöpfte in Ruhe ihre Jacke zu. Elke verkündete, die Hilde würde die ganze Sache viel zu ernst nehmen, und das wollte sie ihr schreiben. Sylvia nickte, weil Elke in ihre Richtung sah. Auf einmal war fast die ganze Klasse beisammen. Wie die das bloß immer schafften, so unauffällig über die Straße zu kommen? Sylvia seufzte heimlich. Sie hätte auch gern die Pause im Park verbracht, wenn sie nur wüsste, wie sie das anstellen sollte. Wenn sie so einfach über die Straße ging, würde sie mit Sicherheit von einem Lehrer erwischt.

Die drei folgenden Stunden verliefen fast genauso zäh wie die erste. Französisch war dienstags der einzige Lichtblick, das fanden auch die anderen.

 

Die Büchertasche ließ Sylvia einfach aus der Hand fallen. Fast mit der gleichen Bewegung schlüpfte sie aus der Jacke. Zuerst mal musste sie etwas zu essen haben, dann konnte sie sich um ihr Zimmer kümmern. Dass die Jacke, die sie über die Stuhllehne hatte werfen wollen, auf den Boden gerutscht war, war vorerst egal.

Pausenbrote gab es in ihrer Klasse nicht. Das war anscheinend nur etwas für die Kleinen. In den ersten Wochen, als sie noch regelmäßig eins mitgenommen hatte, hatte sie beim Essen immer die mitleidigen Blicke der anderen gespürt. Inzwischen hatte sie sich angepasst.

Sie nahm sich ein großes Stück Speck aus dem Kühlschrank, ein Ei und die offene Dose Sauerkraut. Ein Mund voll Kraut stillte wenigstens den gröbsten Hunger. Während der Speck in der Pfanne brutzelte, griff sie immer wieder in die Dose. Seit sie zu Weihnachten etwas Geschirr bekommen hatte, machte ihr die Kocherei sogar Spaß. Sie hatte nicht erwartet, dass das so einfach war. Die Oma würde wahrscheinlich meckern, dass der Speck zu hart wäre, aber Sylvia mochte ihn gerade so resch gebraten. Und rohes Sauerkraut als Salat war für die Oma erst recht unmöglich. Das gab es zuhause nie anders als gekocht. Astrid hatte einmal einen Sauerkrautsalat mit Ananas serviert, ein Greuel für die Oma, für alle anderen etwas ganz Besonders. Damals hatte Sylvia gedacht, so etwas würde sie nie lernen, inzwischen war es ihr nur zu viel Arbeit. Sie lud das Spiegelei mit Speck auf einen Teller und legte eine dick mit Butter bestrichene Scheibe Brot dazu. Während sie alles zum Tisch trug, stieß sie die Jacke mit dem Fuß beiseite. Die konnte sie nachher immer noch aufheben, jetzt wollte sie essen.

Nach den ersten Bissen drehte sie das Radio an. Beim Essen zu lesen, hatte sie sich abgewöhnt, da geriet zu leicht ein Fettfleck ins Buch. Im Radio kam mittags zwar nur Politik, aber das war immer noch besser als nichts. Richtig genießen konnte sie ihr Mahl ohnehin nicht. Beim ruhigen Sitzen war es ungemütlich kalt. Bevor sie den Ölofen anzündete, wollte sie erst lieber aufessen, sonst würden ihre Hände nach Heizöl stinken, und außerdem mochte sie kein kaltes Spiegelei.

Vergangene Woche war es so mild gewesen, dass sie glaubte, sie brauchte gar nicht mehr oder nur noch ein wenig elektrisch heizen. Aber jetzt, wo es wieder kühler geworden war, würde die eine Kanne Heizöl wohl doch nicht reichen. Dabei war es so peinlich, wenn sie unten im Büro den Schlüssel für den Heizölkeller holen musste. Sie achtete zwar darauf, dass sie das Geld für die zehn Liter immer abgezählt dabei hatte, aber oft genug musste sie trotzdem warten, bis die Sekretärin etwas anderes erledigt hatte. Sie fühlte sich dann wie der letzte Bettler.

Als das Feuer endlich brannte, hob sie die Jacke auf. Eigentlich brauchte sie die gar nicht in den Schrank zu hängen. Bei der Kälte mochte sie nicht im Zimmer bleiben. Sie musste ein paar Bücher in die Stadtbibliothek zurückbringen. Das konnte sie gleich mit einem Spaziergang verbinden. Wenn sie heimkam, war es warm. Dann war immer noch genug Zeit für die Hausaufgaben.

Sie packte die Bücher in eine Plastiktüte, zog die Schuhe an, sah nach dem kleinen Schirm in der Handtasche, steckte noch einen Zehnmarkschein ins Portemonnaie – für den Fall, dass sie etwas einkaufen wollte – und ging los. Draußen war es gar nicht mal so ungemütlich. Schon an der Straßenecke zog sie den Reißverschluß ihrer Jacke auf. Bei dem Wetter lohnte sich der Umweg durch den Ringpark. Vor einiger Zeit hatte sie dort die ersten Krokusse entdeckt, vielleicht blühte inzwischen mehr. Schließlich hatte sie es nicht eilig, wieder heimzukommen.

Bevor sie sich entschieden hatte, ob sie den Schlenker gleich oder auf dem Rückweg machte, war sie schon abgebogen. So schwer waren die drei Bücher nicht. Auf dem Heimweg hatte sie womöglich mehr zu schleppen. Im Park kündigte sich der Frühling deutlich an, auch wenn noch alle Bäume kahl waren. Es war windstill, und die Sonne schien direkt auf den Weg, so dass die Winterjacke fast zu warm war. »Vielleicht hätte ich den Ofen doch erst heut' abend anmachen sollen«, dachte Sylvia. Bis es warm geworden wäre, hätte sie den Heizlüfter einschalten können. Aber jetzt ging sie nicht mehr zurück.

Was war das da vorn denn für ein rosa Fleck? Das sah doch fast so aus, als ob … tatsächlich. Sylvia blieb überwältigt stehen. Was das wohl war? Ein Mandelbäumchen oder eine Zier-Kirsche? Schade, dass sie niemanden fragen konnte. Aber es war ja auch egal. Schön war das Bäumchen jedenfalls, und sie hatte es für sich allein. Die wenigen Leute, die vorbeihasteten, schienen es gar nicht zu bemerken. Von der Bank dort drüben, direkt in der prallen Sonne, konnte sie eine Zeit lang den Anblick genießen, ohne zu frieren.

Sie war so versunken in den Anblick, dass sie gar nicht merkte, wie sich jemand neben sie setzte. Als sie von der Seite angesprochen wurde, zuckte sie heftig zusammen. Sie hatte kein Wort verstanden. »Wie bitte?« wollte sie sagen, doch es kam nur ein gequetschtes »Hm« heraus. Dieses »Wie bitte« hörte sich so furchtbar vornehm an, sie brachte es einfach nicht über die Lippen.

Den Mann neben ihr störte das nicht. Er wiederholte seinen Satz. Sylvia glaubt etwas wie »auch allein?« zu verstehen. Sie nickte automatisch. Dass sie allein war, ließ sich nicht leugnen. Dann griff sie ihre Taschen und stand auf. »Ich muss jetzt weiter«, murmelte sie. Nach ein paar Schritten war der Fremde an ihrer Seite. »Ich mitgehen«, erklärte er. Sylvia beschleunigte unwillkürlich ihre Schritte: »Ich habe keine Zeit, ich bin sowieso zu spät dran.« Im gleichen Moment fiel ihr auf, wie unwahrscheinlich diese Ausrede war, nachdem sie gerade noch müßig auf der Bank gesessen war. Aber was sollte sie sonst sagen? Sie wusste doch, dass sie immer dann von fremden Männern angesprochen wurde, wenn sie offensichtlich Zeit hatte. Also musste sie so tun, als ob sie es unheimlich eilig hätte. In der Regel funktionierte das. Nur heute … das Bäumchen hatte sie dazu verführt, untätig auf der Bank zu sitzen.

Sie musste ein lächerliches Bild bieten, wie sie durch den Park hastete, der Mann einen halben Schritt hinter ihr. Jetzt hatte er sie eingeholt. Natürlich fiel es ihm nicht schwer, mit ihr Schritt zu halten. Er hielt ihr sogar ein Päckchen Zigaretten hin. Sylvia schüttelte erschrocken den Kopf. Nein, mit dem Rauchen wollte sie wirklich nicht anfangen. Wenn sie daran dachte, wieviel Geld Peter für Zigaretten ausgab. Und außerdem konnte sie diesen Geruch nicht leiden. Komisch, wenn der Vater am Abend noch eine rauchte, störte sie das viel weniger. Es musste an der Marke liegen. Oder nicht? Der Typ neben ihr qualmte wieder eine andere Sorte, aber irgendwie roch er wie Peter damals im Wald.

Sie spürte, wie es ihr heiß ins Gesicht stieg. Wie konnte sie nur solche Gedanken haben? Peter war doch etwas ganz anderes als dieser Fremde. Der merkte nicht, dass sie rot geworden war. Er wollte ihr etwas erklären. Er fuhr sich über die Wangen, redete viel, von dem Sylvia wenig verstand. Ihr Gesicht hätte ihn beeindruckt, glaubte sie herauszuhören. Sie nickte mechanisch, natürlich, ihre Figur gefiel schließlich niemandem; sie war zu dick, unbestreitbar. Immerhin war es nett, dass er sich bemühte, etwas Hübsches zu finden. Er reichte ihr ein Pappkärtchen hin. Sie warf einen uninteressierten Blick darauf. Es war wohl ein Firmenausweis. Darauf klebte ein Passbild, schlecht fotografiert und offensichtlich aus dem Automaten, darunter in ungelenker Kinderschrift ein Namenszug. »Schön«, sagte Sylvia und gab das Kärtchen zurück. Behalten sollte sie es wohl nicht. Langsam begriff sie, was er ihr sagen wollte. Er hatte eine feste Arbeit, in seinen Augen etwas ganz besonderes, gut bezahltes. Er wollte Sylvia öfter treffen.

Sylvia schwieg. Sie wünschte sich schon lange einen Freund. Warum nicht ein einfacher Arbeiter? Sie wollte doch immer beweisen, dass sie sich nicht als etwas Besseres fühlte. Und gerade zu den Ausländern musste man freundlich sein. Die hatten es schwer genug. Wahrscheinlich war der Typ ernsthafter als ihre blasierten Mitschüler, älter war er auf jeden Fall. Ein verständliches Deutsch würde er schon lernen, wenn sie es ihm beibrachte. Vielleicht konnte sie sogar seine Sprache lernen. Er schien Spanier zu sein oder Italiener, das war bestimmt leicht zu lernen, wenn sie das Gelernte gleich anwenden konnte.

Sie ging langsamer und hatte den Kopf gesenkt. Beim Nachdenken konnte sie nicht rennen. Der Mann fasste das als Zustimmung auf. Er legte den Arm um ihre Schulter. Gerade noch konnte sie den Kopf wegdrehen, da hatte sie schon einen Kuss knapp vorm Ohr. Einen ekelhaft nassen Schmatz. Und der war auf den Mund gezielt. So hatte sie sich eine Freundschaft nun auch wieder nicht vorgestellt. Außerdem hatte sie doch noch gar nichts gesagt. Sie hob die Hand, um die Wange abzuwischen. Aber nein, das war unhöflich. Sie ließ es bleiben. Aber aus der Umarmung durfte sie sich mit einer leichten Drehung befreien, das war nicht unhöflich. Nach drei Schritten hatte er schon wieder die Hand auf ihrer Schulter.

»Ich …«, setzte sie an. Herrschaft, was konnte sie sich auf die Schnelle als Ausrede einfallen lassen? »Ich muss jetzt in die Bibliothek. Ich muss arbeiten«, behauptete sie hastig. Sollte er doch denken, sie wäre dort angestellt. Na also, er ließ sie los. Wann er sie wiedersehen würde, wollte er noch wissen. »Morgen«, begann Sylvia, »nein, morgen gehts nicht, am Freitag.« Freitags fuhr sie nachhause, da konnte sie ihm nicht aus Versehen über den Weg laufen.

»Bei der Bank«, sagte er »Freitag, selbe Zeit.«

»Ja.«

Bevor er ging, drückte er ihr einen noch feuchteren Kuss auf die Backe. Sie sah ihm nach, ein wenig enttäuscht, dass er sich nicht mehr umwandte, erleichtert, dass sie nicht Arm in Arm mit einem fremden Mann über den Marktplatz gehen musste. Wenn jemand sie gesehen hätte, hätte sie erklären müssen, wer das war. Dass sie sich auf der Straße hatte anquatschen lassen, ging schließlich niemanden etwas an.

Sie rannte fast den ganzen Weg bis zur Bibliothek und dort, nachdem sie ihre Sachen in ein Schließfach gestopft hatte, zur Toilette. Sorgfältig seifte sie ihre Hände ein, dann wusch sie sich das Gesicht, mit dieser scharfen Seife. Die Haut spannte und brannte, aber das war egal, Hauptsache, sie war wieder halbwegs sauber. Wenn sie sich nachher, daheim, sorgfältig eincremte, würde sich der Teint schon wieder beruhigen. Es dauerte lange, bis sie sich am Rückgabeschalter anstellte.

Beim Auswählen der neuen Bücher ließ sie sich Zeit. Wenn der Mann noch draußen wartete, sollte ihm die Lust vergehen.

Als sie endlich schwer beladen auf die Straße trat, stand die Sonne flach über dem Horizont. Jetzt konnte sie die warme Jacke gut brauchen. Die Plastiktüte hing wie Blei am linken Arm. Die Hand war schon ganz taub. Sie hätte eine zweite Tüte mitnehmen sollen oder statt der Handtasche die mit den Fischen. Aber so viele Bücher hatte sie ursprünglich gar nicht ausleihen wollen. Das lag nur daran, dass sie sich wegen dieses Mannes so lange in der Bibliothek herumgedrückt hatte. Hoffentlich hielten es die Griffe bis nachhause aus. Sie zogen sich schon jetzt bedrohlich in die Länge.

Wenn sie die Tüte mit beiden Arme vor die Brust klemmte, konnte sie sie halbwegs tragen.

Zu Hause ließ sie mit einem erleichterten Seufzer die Tasche auf den Stuhl fallen. Zwei Bücher rutschten heraus. Sylvia schüttelte ihre taub gewordenen Arme. Dann bückte sie sich steif nach den Büchern. Eins blätterte sie auf. Französische Kurzgeschichten, ob sie die wohl lesen konnte? Versuchen wollte sie es, dann hätte das ewige Schmökern einen Sinn. Vielleicht bot sich sogar einmal die Gelegenheit, dass sie der Hofer davon erzählen konnte.

Seufzend steckte sie beide Bücher zurück in den Beutel. Es half nichts. Zuerst waren die Hausaufgaben dran. Die Englisch-Übersetzung konnte sie nicht mehr weiter vor sich her schieben. Und Mathe, Mist, morgen war Mathe. Sie hatte den neuen Stoff nicht verstanden, und es gab niemanden, den sie fragen konnte. Trotzdem, irgendwie musste sie sich durchbeißen. Sie konnte sich doch nicht so blamieren und zugeben, dass sie die Mathe-Hausaufgabe nicht verstanden hatte. Vielleicht fiel ihr noch eine plausible Ausrede ein. Am besten setzte sie sich zuerst einmal ans Französische. Das machte wenigstens Spaß.

 

Zufrieden klappte Sylvia das Heft zu. Sie hatte zwei Stunden intensiv gearbeitet. Französisch und Englisch war fertig, und wenn Mathe falsch war, dann würde sie es vielleicht morgen bei der Besprechung kapieren. Sie war genau den Erklärungen im Buch gefolgt, eigentlich musste es stimmen.

Jetzt wollte sie erst mal in Ruhe etwas essen, dann musste sie Geschirr spülen. Seit gestern Abend hatte sich eine ganze Menge angesammelt. Aber danach konnte sie gemütlich den Radio-Krimi anhören und dabei sticken. Die bunte Bauernbluse, an der sie gerade arbeitete, hatte einen einfachen Schnitt, so dass sie die wenigen Nähte ohne weiteres am Wochenende zuhause schließen konnte. Aber die Stickerei war aufwändig. Daran saß sie fast jeden Abend. Nur wenn sie überhaupt nichts Interessantes im Radio finden konnte, ging sie zeitig mit einem Buch ins Bett.

 

 

 

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